Alexander Hartmann
Artikel im SPIEGEL 37/1998 anläßlich der Herausgabe durch Peter Rüedi: Max Frisch/Friedrich Dürrenmatt: „Briefwechsel“. Diogenes Verlag, Zürich; 240 Seiten; 39 Mark.
Zum Eklat kam es an einem Abend im September 1978 in dem Zürcher Restaurant „Kronenhalle“. Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, damals 57, schrieb seinem zehn Jahre älteren Kollegen Max Frisch eine freundlich gemeinte Widmung in ein neues Buch aus seiner Feder, einen Gruß an den „alten Kumpanen“. Der verschwand später heimlich, kehrte aber gegen Mitternacht lautstark und offenbar angetrunken zurück. Er habe mit seinem Anwalt gesprochen, „Kumpan“ sei ein Wort aus der Verbrechersprache – dann, so wird es von einem Zeugen kolportiert, schmiß Frisch dem verdatterten Dürrenmatt das Buch hin und trat ab.
Tage später entschuldigte sich der Überempfindliche bei dem Brüskierten in einem anrührenden Brief dafür, „daß ich an dem Abend in der Kronenhalle durchgedreht habe“. Nicht nur der Cognac sei schuld gewesen, so Frisch: „Es häufen sich seit einiger Zeit bei mir die Fehlleistungen, zum Verzweifeln.“
Es war einer der letzten Briefe, die zwischen ihnen gewechselt wurden. Die Freundschaft war lange vorbei, und bis zu dem nahezu zeitgleichen Ableben im Dezember 1990 (Dürrenmatt kurz vor seinem 70. Geburtstag) und im April 1991 (Frisch kurz vor seinem 80.) herrschte zwischen beiden weitgehend Funkstille – von einem vergeblichen Anlauf im Mai 1986 abgesehen, als Dürrenmatt mit einem weisen und traurigen Resümee der gemeinsamen Beziehung noch einmal das Gespräch suchte (siehe Auszüge aus dem Briefwechsel weiter unten).
Erstmals wird jetzt mit der Edition des Briefwechsels – das Buch erscheint Ende des Monats – das ganze Ausmaß der Verstörungen und wechselseitigen Mißverständnisse zwischen Frisch und Dürrenmatt deutlich. Für einen Zeitraum von fast 40 Jahren ist das Ergebnis der Korrespondenz quantitativ ohnehin überraschend kläglich.
Selbst Herausgeber Peter Rüedi kann nicht umhin, in seiner fundierten Einführung, die umfangreicher ist als das ganze Briefkonvolut, von der „sehr lückenhaften Dokumentation einer schwierigen Freundschaft“ zu sprechen. Dennoch ist die Sammlung äußerst reizvoll und aufschlußreich – nicht nur, weil die beiden Kontrahenten lange Jahre als die Dioskuren der Schweizer Literatur galten: Sie enthält das Psychogramm zweier bedeutender Temperamente, wie sie unterschiedlicher kaum zu denken sind.
Frisch war es, der („Verehrter Herr Fritz Dürrenmatt!“) im Januar 1947 den Kontakt aufnahm. Der auch als ‚Theaterautor schon einigermaßen Arrivierte schrieb dem Unbekannten zu seinem ersten Stück „Es steht geschrieben“: Er sei begeistert davon und wolle dem Jüngeren gern den Weg zur Bühne ebnen. Dürrenznatt antwortete postwendend („Sehr geehrter Herr Frisch“), hocherfreut darüber, daß „ein Dichter von so unbestrittener Substanz und Können“ ihm die Hand reiche.
Fast gleichaeitig schrieb derselbe dem Germanisten Walter Muschg in einem Brief: „Frisch verstehe ich nicht.“ Und auch Frisch ließ – sogar öffentlich – schon früh Irritation erkennen. Er sei, trotz der „Bewunderung für eine dichterische Kraft“, nicht sicher, ob er die Dichtung von Dürrenmatt „in ihrem wesentlichen Anliegen begreife“.
So blieb es im Grunde über Jahre: Die beiden bemühten sich um eine intensive „Arbeitsfreundschaft“ (Frisch), schickten einander Manuskripte und Entwürfe, versuchten sich als Kritiker auf Gegenseitigkeit und kamen sogar häufig zum Gedankenaustausch zusammen, auch auf gemeinsamer Reise (was zumindest manche Lücke im Briefwechsel der ersten zwei Jahrzehnte erklärt) – doch viel lernen konnten sie voneinander offenbar nicht. Ihr Lob war selten ohne Widerhaken. Im März 1949 beglückwünschte Frisch den anderen zu einem neuen Stück („Romulus der Große“), doch fand er am vierten Akt einiges auszusetzen. Der Ulk sei darin „mehr wurstig als kühn“, Dürrenmatt begnüge sich an entscheidenden Stellen „fast mit Gymnasiastenscherzen“. Der antwortete leicht pikiert, die Einwände müsse er wohl auf sich sitzen lassen: „Sie überzeugen mich irgendwo, und anderseits habe ich das Gefühl, daß Sie mit ihren Pfeilen ein anderes Ziel suchen als das von mir gewählte.“
Bald darauf konnte Dürrenmatt den Kritiker spielen. Frisch hatte ihm im Sommer 1949 eine Fassung des Stücks „Graf Öderland“ geschickt, und der zum Kommentar Ermunterte („Sie werden ganz offen sein, hoffe ich“) reagierte mit einer seitenlangen und schonungslosen Analyse.
Schmerzhafter noch als dieser interne Mängelbericht traf Frisch die als Verriß empfundene, in der „Weltwoche veröffentlichte Aufführungskritik Dürrenmatts – in einem Brief war er eifrig bemüht, das Gefühl des Vertrauensbruchs zu verbergen. Der andere spürte die Gefahr (inzwischen war man per Du) und antwortete sofort: Er bedauere, das Positive nicht deutlicher gezeigt zu haben.
Danach hatte Dürrenmatt immer mehr Probleme, Frisch gegenüber Stellung zu beziehen. Eine versprochene Kritik zu dessen Roman „Stiller“ (1954) wollte und wollte nicht fertig werden, sie blieb am Ende Fragment. Drei Anläufe unternahm er 1961, um Frisch zum 50. Geburtstag zu gratulieren und ihm etwas Freundliches zum neuen Theaterstück „Andorra“ zu schreiben – es wurde jedesmal eine Ablehnung des Dramas daraus, und offenbar wurde keiner der Entwürfe je abgeschickt.
Frisch und Dürrenmatt waren Anfang der sechziger Jahre weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt, ihre Theaterstücke wurden viel gespielt – Frisch hatte zudem als Romancier („Homo faber“) Erfolg. Beide waren sich überraschend einig in einem Punkt: Der strahlende Aufgang ihres „Doppelgestirns“ (Dürrenmatt) gerade im Nachkriegsdeutschland hatte nicht zuletzt damit zu tun, daß sie „in eine Lücke, in ein Vakuum hineingerieten“, wie Dürrenmatt es später in einem Interview formulierte: „In den Schubladen der sogenannten Schubladendichter in Deutschland war leider nicht besonders viel drin.“
So ähnlich äußerte sich auch Frisch im Gespräch: „Weil nach dem Krieg die meisten Deutschen noch in den Gefangenenlagern waren oder gerade erst zurückkamen, war das Feld frei, und wir wurden trotz unseres Altersunterschieds einfach zusammengehängt.“ Sie waren die Dramatiker, die aus der Schweiz kamen: aus einem damals von vielen Deutschen bewunderten und beneideten, scheinbar unbelasteten Land.
Gemeinsam hatten sie es geschafft, und nun gefiel ihnen diese Gemeinsamkeit nicht länger. „Jeder war der Schatten des anderen“, sagte Frisch 1982 im Rückblick. Das hat uns beide verdrossen.“ Die Animositäten häuften sich. Schon 1950 hatte sich Dürrenmatt nach einem Gespräch mit Frisch – über das Schreiben von Tagebüchern – die Notiz gemacht: „Was habe ich mit diesem Menschen gemeinsam? Ich verleugne mich so viel, wenn ich mit ihm rede.“ Nicht viel anders empfand es offenbar Frisch („eine komische Freundschaft! „), der sich ein paar Jahre später notierte: Das Handwerksgespräch sei schwierig, „da meine Meinungen selten Gehör finden“. Dürrenmatt sei bisweilen „von einer imposanten Ungezogenheit“.
Dennoch versuchten beide, die Freundschaft durchzuhalten, auch den Glauben an sie. Jeder grübelte immer wieder über den anderen. Von Frisch gibt es mehrere ausführliche Skizzen und Porträtversuche, die Dürrenmatt umkreisen. Einmal ist gar die Rede von „Männerzärtlichkeit, die Zigarren anbietet und den allerbesten Wein aus dem Keller holt“. Im Sommer 1969 notierte er sich.den Satz: „Er braucht den Vorsprung, dann wird es großartig und gemütlich.“
Im Herbst desselben Jahres setzte Frisch sich hin und schrieb dem anderen einen grimmigen Brief: „Mein lieber Fritz. Ich weiß nicht, ob es Dir irgend jemand deutlich sagt: Du machst es nicht gut.“ Dürrenmatt brauche Leute, so Frischs Fazit, die ihm blindlings ergeben seien, sonst fühle er sich verraten. Dabei sei er es, der „leichtfertig oder auch bösartig“ seine Freunde verrate, „wenn Du mit ihnen nicht unter vier Augen bist“. Abgeschickt wurde der Brief (siehe weiter unten) wahrscheinlich nicht. Und so blieb vieles zwischen den beiden unausgesprochen, blieb Entwurf, Fragment – Kommunikation, die regelmäßig ins Stocken geriet.
„Ich muß gestehen, daß ich nie einen getreueren Kollegen gefunden habe als Max Frisch“, notierte sich, andererseits Dürrenmatt 1973. Seit es zum Bruch gekommen sei („aus Gründen, die ich nie gänzlich begriffen habe“), befinde er sich in einer „vollkommenen Einsamkeit“. Es folgt fast eine Liebeserklärung: „Frisch stellte sich zur Diskussion, sein Leben, seine Ehe – ich muß gestehen, daß ich ihn darum liebe, auch jetzt – als meinen dialektischen Gegensatz.“
Oft hat sich Dürrenmatt über Frischs Frauengeschichten“ lustig gemacht, darüber, daß dem anderen die eigene Person und die eigenen Probleme zum literarischen Thema wurden, wie etwa in der Erzählung „Montauk“ (1975). In einem letzten Brief, auf den Frisch nicht mehr geantwortet hat, gab der Vereinsamte 1986 zu verstehen, daß er den anderen gerade für diesen Mut insgeheim immer bewundert habe: „Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen.“ Fast prophetisch sah der 65jährige Dürrenmatt voraus: „Unser beider Rutschbahn, im Nichts endend, die wir noch hinunterzu- schlittern haben, ist ungefähr gleich lang.“ Ein ergreifender, sorgsam ausgefeilter Brief – ein Geschenk an den verlorenen Freund.
Frisch hat die Entfremdung offenbar leichter genommen und wohl zum Teil auch als Befreiung erlebt. Das habe sich einfach „auf natürliche Weise aufgelöst“, sagte er i982 in einem unveröffentlichten Gespräch. „Es war eine sehr gute Sache, auch sehr lustig und herausfordernd.“ Als angenehm hatte Frisch vor allem die frühe Zeit der Freundschaft in Erinnerung – „wobei wohl beiden ziemlich friih bewußt war, daß wir jeweils auf einem ganz anderen Acker stehen“. Als besonders trennend empfand er, daß Dürrenmatt stets „fest in seinem Gleis, … einem theologischen“ geblieben war.
Auch wenn Frisch einst der Initiator des Briefwechsels war, so erscheint er insgesamt in dieser KorrespondEnz als zumeist zurückhaltender Partner, bisweilen wirkt er regelrecht matt. So ist es ein Glücksfall, daß Ende dieses Jahres ein weiterer Frisch-Briefband erscheinen soll: der Gedankenaustausch mit Uwe Johnson aus den Jahren 1964 bis 1983. Darin zeigt der Schweizer sich von einer ganz anderen Seite: offen, ausdauernd, empfänglich für Rat und Anregungen.
Mit dem um mehr als 20 Jahre jüngeren Johnson, dem „Internkenner meiner Schwierigkeiten“ (Frisch), fand er schneller einen tragfähigen Umgangston – freilich auch erst nach dem Ausräumen anfänglicher Mißverständnisse nach einer Begegnung in Berlin 1964. Johnson fing das geschickt in einem Brief auf (er sei „ungelenk“ im Small talk) und gab so die Richtung vor: Es entwickelte sich eine solide Freundschaft.
Auch das Thema Dürrenmatt spielte dabei eine Rolle. „Was gibt es eigentlich auszusöhnen?“ schrieb Frisch 1976 trotzig aus der Schweiz nach England, wo Johnson wohnte. Der antwortete ihm so zurückhaltend wie klug: Dürrenmatt sei doch in manchem das, „was wir Angelsachsen Ihre opposite number nennen würden, und da wollen mir die Störungen zwischen Ihnen vorkommen als eine Art Verschwendung“. Ein schöner Gedanke. Er wurde vergebens mitgeteilt.
Auszüge aus dem Briefwechsel von Dürrenmatt und Frisch
Friedrich Dürrenmatt an Max Frisch
(Schernelz, 8. Mai 1949)
Lieber Herr Frisch,
vielen Dank für das Telegramm und für die Weltwoche. Ist das Kind schon gekommen? Wie geht es ihrer Frau? Ich habe überall gefragt, aber es konnte mir nie- mand Auskunft geben. Über Deutschland habe ich nichts zu sagen. Da ich nicht so scharfe Augen habe wie Sie, und Sie Deutschland länger und besser kennen, ferner, da es mir widerstrebt in einem Totenacker nach jenen Lebewesen zu scharren, die immer noch zu leben pflegen, schweige ich lieber. Beiliegend den Wedekind. Der Band 7 fehlt, es ist aber nichts wichtiges drin. Nehmen Sie ihn als ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit.
Mit den besten Grüßen und den herzlichsten Wünschen für ihre Frau ihr Fritz Dürrenmatt
Max Frisch an Friedrich Dürrenmatt
(Kampen auf Sylt,14. Juli 1949)
Lieber Dürrenmatt! Damit ich es nicht vergesse: senden Sie an Suhrkamp, dem ich davon sprach, den „Pilatus“ und „Es steht geschrieben“; er möchte es lesen. – (Suhrkamp, Falkensteinerstr. 31, Frankfurt.) Hier, zwischen Dünen und endlosem Wasser, ist es herrlich, leider habe ich mich bereits erkältet; sonst ist es, was ich suchte: eine völlig andere Welt.
Herzlich grüßt sie Ihr Frisch
Max Frisch an Friedrich Dürrenmatt
(Berzona,19. Oktober 1969; wahrscheinlich nicht abgeschickt)
Mein lieber Fritz, ich weiß nicht, ob es Dir irgendjemand deutlich sagt: Du machst es nicht gut. Wahrscheinlich schreibe ich jetzt einen Brief, wie man ihn nicht schreiben soll, zumindest nicht abschicken soll; aber aus solcher Diplomatie des Alltags (oder wie man’s nennen will) resultiert es offenbar, daß Du Feinde siehst einerseits und anderseits Freunde, die deinen Auftritt jedenfalls großartig finden. Es würde genügen, daß dein Auftritt richtig ist; ich finde ihn nicht einmal richtig. Dabei spreche ich weniger von der Pressekonferenz in Basel (da ich ja nicht dabei gewesen bin) als von deinem Artikel im „Sonntags-Journal“.
Du weißt, wie ich Werner Düggelin einschätze. Dein Zorn ist mir verständlich, so wie mir deine Bruderschaft mit demselben unverständlich war; unverständlich wie jetzt deine Bruderschaft mit Kurt Beck oder Bigler. Das ist deine Sache. Du brauchst Leute, die dir blindlings ergeben sind, die dich zur Galionsfigur machen, um dich zu benutzen. Jetzt machst du Werner Düggelin öffentlich zur Sau und zwar als Person wie als Artist, Rufmord erster Klasse. Auch dein Zorn gibt dir dazu kein Recht, umso weniger als offenbar (laut Berichten) ein Agreement bestanden hat, wie man sich öffentlich verhalten werde. Diese Unfairness, die auch Kalauer nicht tarnen, spricht nicht für Dich. Warum machst du das? Dein Artikel ist voller Fouls. Weißt du das nicht oder meinst du, daß Du sie dir leisten kannst? Dabei erfährt der Leser so gut wie nichts vom grundsätzlichen Problem, das leider nicht zu lösen war; er erfährt, daß Du dich verraten fühlst – und wer dich über Jahrzehnte kennt, weiß dazu, wie leicht Du deine Freunde verrätst, wenn Du mit ihnen nicht unter vier Augen bist, leichtfertig oder auch bösartig, was wiederum nicht heißt, daß Du dich hinterher nicht wieder als Freund fühlst oder benimmst.
(Was ich übrigens nicht als Foul rechnen würde, ist dein Satz: „Frisch und der Suhrkamp-Verlag waren nur dadurch zu beruhigen, daß ich als Galionsfigur versprach, Frisch zu inszenieren und so durch das Schlagwort Dürrenmatt inszeniert Frisch das bedrohlich eindringende Wasser wieder herauszupumpen“. Das bestätigt mir lediglich, was ich gehört habe: wie in Basel über dieses Vorhaben gesprochen worden ist. Das ist kein Foul, nur ein klares Off-side: der Suhrkamp-Verlag war überhaupt nicht beunruhigt, daß ich Düggelin gegenüber auf Konsequenz ging, sondern Du warst beunruhigt, und was dabei mich betrifft, so habe ich dich in Vulpera mit keinem Wort gedrängt, nicht einmal gebeten. Der Satz lügt.)
Sicher halten es deine Trabanten für einen Genie-Streich, wie Du die Presse-Konferenz gesprengt hast. Ich weiß nicht, Fritz. Daß Du die andern nicht zu Wort kommen läßt, das geht, solange Du witzig bist; nur ist der Gekränkte selten witzig, sondern verfällt leicht einer unkontrollierten Eitelkeit. Ich furchte, das ist geschehen. Es wird vergessen werden. Euer „Sonntags-Journal“ (…) hat mich zu einer Stellungnahme eingeladen; das werde ich unterlassen.
Ich weiß nicht, lieber Fritz, was Du mit diesem unangenehmen Brief anfängst. Das muß ich Dir überlassen. Ich habe von Dir ja nicht einen andern Charakter zu fordern. Ich bewundere Dich – und jetzt schon so lange, daß ich mich darauf verlassen kann; aber vielleicht hätte man Dich öfter abpfeifen müssen, wenn Du off-side stehst (nur hörst Du es dann nicht) oder wenn Du, sobald der Sieg nicht sicher ist, Foul spielst. Ich meine nur, daß Du es nicht nötig hättest. Was geht Dir da durch? Frage ich mich, warum ich, statt bei mei ner Arbeitsnot zu bleiben, diesen Brief schreibe – der Empfänger kann einen Brief ja auch bösartig verwenden – so vermute ich: Du hast Freunde genug, die es bei der Bewunderung bewenden lassen, aber offenbar wenige, die Du erträgst, wenn sie einmal den Applaus verweigern. Das tue ich gelegentlich; zum Beispiel in diesem Fall. Ohne mich auf die andere Seite zu stellen. Es ist ein Jammer, daß deine prak- tische Theater Arbeit nicht weitergeht; Du weißt, wie sie mich interessiert hat: immerhin bin ich jedes Mal hingefahren, um sie mir anzusehen. (Weniger schade finde ich es, daß der Dürrenmatt inszeniert Frisch nicht stattfindet; ich habe zu dieser Ankündigung nichts gesagt, nur etwas gedacht.) Ein Jammer also; aber dein Artikel ist zu selbstgefällig, als daß er überzeugt. Wer dir das sagt, ist nicht dein Feind; nur wer es hinten herum sagt. Und das sind viele.
Herzlich Dein Frisch
Friedrich Dürrenmatt an Max Frisch
(Neuchâtel,11. Mai 1986)
Lieber Max es war für Dich einst ein Problem, daß ich zehn Jahre jünger bin als Du. Das spielt jetzt keine Rolle. Unserer beider Rutschbahn, im Nichts endend, die wir noch hinunterzuschlittern haben, ist ungefähr gleich lang. Wenn wir schon beide ältere Herren geworden sind, eine Tatsache die, daß sie einmal eintreten könnte, ich nie ins Auge gefaßt habe, so weiß ich nicht, ob wir einander kondolieren oder gratulieren sollen. Wie es auch sei, wir haben uns beide wacker auseinander befreundet. Ich habe Dich in Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwundert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Jedem seine Narben. Diese Zeilen schreibe ich nicht ohne Nostalgie. Ich habe mich nie sonderlich um die Schriftstellerei unserer Zeit gekümmert, du bist seiner Zeit einer der wenigen gewesen, die mich beschäftigt haben – ernsthaft beschäftigt wohl der Einzige. Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen. Daß wir uns auseinanderbewegen mußten, war wohl vorgezeichnet, ohne daß ich damit eine literaturgeschichtliche Prädestinationslehre aufstellen möchte
Dein Dürrenmatt