HOMO FABER Vorbemerkung Im Roman "Homo Faber" werden Frischs Vorgänge und Begebenheiten erzählt, deren fiktive Realität sich mit der unsrigen deckt. Grundsätzlich geht es um den Widerpart von Ratio (Vernunft, Verstand) und Seele, von Erklärbarem und Unerklärbarem, von menschlichen Plänen und der Verknüpfung unseres Handelns in ganz anderen Bereichen, von Leben als Addition und Leben als Gestalt. Seine Bearbeitung scheint vorerst ohne Berücksichtigung von Naturwissenschaft, Philosophie und Psychologie nicht möglich. Nichts davon jedoch erscheint im Roman, trotzdem bleibt die Erzählung verständlich. Vorteil: Wir erkennen den Irrtum des Walter Faber und die damit zusammenhängende Problematik ohne Kommentar. Die Geschichte Fabers ist eine private Geschichte, welche Aufzeichnungen persönlicher Materialien des Helden enthält 1). In seinem Tagebuch hat Frisch notiert: "Als Stückeschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es in einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermassen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können - ohne ihre Antwort, die sie nur mit dem Leben geben können." Der Dichter Max Frisch liebt komplizierte Erzählsituationen, motivische Kontrast-Analogien, das reizvolle Spiel mit Erzähltem und Erinnertem, den beziehungsreichen Wechsel von Rückwendung und Vorausdeutung. Erst wenn sich aus solcher Verwendung literarischer Instrumente Figuren fügen, deren Reiz sich dem Rezipienten erschliesst, kann aus der Begegnung zwischen Leser und Werk Fruchtbares wachsen.2) -------------------- 1) Hans Geulen "Max Frischs Homo Faber" - Studien und Interpretationen 2) Max Frischs Tagebuch 1946 - 49 Zusammenfassung (chronologischer Ablauf) Ein Schweizer Ingenieur, Walter Faber, der in den Jahren 1933-35 Assistent an der ETH in Zürich ist, lernt eine Halbjüdin, Hanna Landsberg aus München, kennen und will sich mit ihr vermählen. 1936 bekommt Faber ein Angebot aus Bagdad und trennt sich von seiner Verlobten, die ein Kind von ihm erwartet, das abgetrieben werden sollte. Hanna heiratet stattdessen Fabers Freund, einen Medizinalstudenten im Staatsexamen, Joachim Hencke und bringt das Kind, das sie Elisabeth nennt, zur Welt. Nach dem Krieg geht Hanna eine Ehe mit dem deutschen Kommunisten Piper ein. Doch sie lässt sich 1953 auch von ihm scheiden und wandert mit ihrer Tochter nach Griechenland aus. Elisabeth, nun etwa zwanzigjährig, geht 1956 für ein Jahr nach Yale in die USA um zu studieren. Walter Faber, der seit 1946 in Manhattan lebt und mit Ivy, einem amerikanischen Mannequin, zusammenwohnt, arbeitet mittlerweile für die UNESCO als Entwicklungshelfer. 1957 fliegt er von New York nach Caracas, um eine Turbinenmontage zu leiten. Unterwegs lernt er einen Düsseldorfer kennen, Herbert Hencke, Vertreter der Hencke-Bosch AG, welche eine Tabakplantage in Guatemala aufbaut und begleitet diesen. Als sie nach einigen Tagen die Plantage erreichen, finden sie Joachim (Leiter des Projekts und Ex-Ehemann von Hanna) erhängt vor. Faber reist zurück zu Ivy, da die Turbinen in Caracas noch verpackt sind. Am nächsten Tag nimmt er ein Schiff nach Le Havre um in Paris an einer Konferenz teilzunehmen. Dabei trifft er eine junge Studentin namens Elisabeth Piper, die ihre Mutter in Athen besuchen will, und verliebt sich in sie. In Paris begegnet er ihr wieder, beide kommen sich näher und reisen per Auto nach Griechenland. Nach einem Schlangenbiss am Strand in Akrokorinth bringt er sie zu einem Hospital in Athen, wo er auch Hanna begegnet. Während er bei ihr wohnt, kommt ihm die Gewissheit, dass Elisabeth seine Tochter ist. Wenige Tage später unterliegt sie ihren Kopfverletzungen, die sie sich beim Sturz nach dem Schlangenbiss zugezogen hat. Faber kann beim Aufenthalt in Caracas wegen seiner Magenbeschwerden nicht an der Montage teilnehmen und schreibt den ersten Teil eines Berichts an Hanna. Am 9.7.1957 fliegt er nach Düsseldorf, um der Hencke-Bosch AG über den Tod von Joachim und die Plantage mittels aufgenommener Videofilmen zu berichten. Ab 19.7. liegt Faber im Athener Krankenhaus, um sich einer Magenoperation (Diagnose: Magenkrebs) zu unterziehen. Während dieser Zeit schreibt er den zweiten Teil seines Berichts. Hinzu kommen noch handschriftliche Aufzeichnungen, die in dem Moment abbrechen, als sie ihn zur Operation abholen. Sprache und Stil Das Offensichtliche ist schnell gesagt. Schon beim Durchblättern des Buches fällt einem auf, dass es sich nicht um einen alltäglichen Roman handelt. Wenn man erst einmal ausgelesen hat, weiss man auch wieso. Vom Konzept her hält man ein Manuskript in Händen, welches sich teils aus Maschinenseiten, teils aus Handschriften (im Spital nehmen sie ihm in den Ruhezeiten seine "Hermes-Baby" weg) besteht. Der Untertitel "Ein Bericht" entspricht diesem Ansatz. Frisch zeigt uns hier einen Techniker, der es gewohnt ist, Rapporte zu schreiben. Dementsprechend fällt auch die Sprache aus: einfache und oft kurze Sätze wechseln sich mit Satzungetümen ab, die versuchen, einen Tatbestand möglichst genau zu beschreiben. Frisch zu seinen Helden: "Dieser Mann lebt an sich vorbei, weil er einem allgemein angebotenen Image nachläuft, nämlich dem der Technik. Im Grunde ist Homo Faber kein Techniker, sondern ein verhinderter Mensch, der von sich selbst ein Bildnis hat machen lassen, das ihn hindert, zu sich selber zu kommen."3) Fabers wichtige Sätze werden mehrmals wiederholt, manchmal nach jedem Absatz, doch ebenso über das gesamte Buch verteilt, um die Denkschemen des Protagonisten darzustellen. Es sind Fragen, die ihm unbeantwortet bleiben, ebenso wie Geisteshaltungen, welche sein Handeln prägen. Da ja der Eindruck eines autobiographischen Textes erweckt werden soll, verrät sich so die Hauptperson quasi selbst. Dem Leser erwächst eine zwiespältige Persönlichkeit, welche ihre menschlichen Bedürfnisse und ihr Selbstverständnis nicht in Einklang bringen kann. Je weiter man im Buch gelangt, desto grösser wird auch das Verständnis für diesen gescheiterten Menschen. Den Anlass zur Niederschrift erhält Faber durch den Tod seiner einzigen Tochter. Den ersten Teil des Buches schreibt er also rückblickend auf die Ereignisse, welche dazu führten. Dazu gehören natürlich auch die vielen Rückblenden in die tiefere Vergangenheit, welche dieses Szenario erst ermöglichten. Faber spricht keine gehobene Dichtersprache. Er ist Ingenieur: er sieht, was er sieht, und er ist kein Erzähler! Manchmal nimmt er die Handlung der kommenden Seiten in einem Satz vorweg (z.B. Heiratsantrag). Frisch gelingt es so immer wieder, uns zu überraschen. Der Verlauf der Geschehnisse wird nicht absehbar, und es erhöht die Spannung auf das Kommende. Der Text wirkt so allerdings auch etwas zerstückelt, da es oft Einschübe gibt, die wenig mit der momentanen Handlung zu tun haben. -------------------- 3) Rudolf Ossowski "Jugend fragt - Prominente antworten" Ansonsten ist die Sprache leicht verständlich, weil wenige Fremdwörter darin vorkommen, bei denen man das dringende Bedürfnis hat, nachzuschlagen. Mit Faber ändert sich auch seine Sprache, welche übrigens keineswegs hauptsächlich als Deutsch angesehen werden kann. Grosse Teile des Buches müssten auf Englisch, Spanisch, Französisch oder Griechisch geschrieben sein - wenigstens die Dialoge. Übrigens dürften etliche Sprachfehler in diesem Buch zu finden sein... (da es ja offiziell niemand korrigiert hat) Analyse I In der Tat birgt der Roman zahlreiche Anspielungen auf Antikes, und die Beziehungen zur griechischen Tragödie sind unübersehbar: die tödliche Krankheit Fabers, die gnadenlose Folgerichtigkeit, mit der er in tiefe, unausweichliche Schuld geführt wird, sind als das Werk der "Erinnyen bzw. Eumeniden" zu deuten, wie er es selbst einmal ausgedrückt hat. Neben dem Schauplatz Griechenland finden wir immer wieder Zitate des Ödipus-Komplexes (unbewusst-verdrängte sexuelle Neigung des Sohns zur Mutter oder der Tochter zum Vater -> Elektra-Komplex), das Motiv zur Blindheit oder der Selbstblendung. Manfred Jürgensen: "Wir haben es in Walter und Hanna mit zeitgenössischen Gegengestalten antiker Sagenhelden zu tun. Der Schlüssel zum richtigen Verständnis dieses Romans sei darin zu finden. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto deutlicher zeigt es sich, dass Frisch hier ein modernes Gegenstück zur klassischen Tragödie gestaltet. Die meditativen Reflexionen gewinnen in der Tat mehr und mehr den Charakter eines Chores, der die vorangegangene Handlung kommentiert."4) Um ein ähnliches "Anspielen" wie beim Ödipus-Komplex handelt es sich wohl auch beim Motiv der Aspis-Viper. Schlangen galten in der Frühantike keineswegs als ekliges Gewürm. Vornehme Damen trugen sie zwecks Kühlung um den Hals und Kinder sahen sogar Spielgefährten in ihnen. Die Abneigung gegen sie trat erst in der Spätantike auf. So möchte es denn gerechtfertig erscheinen, die Aspis-Viper im Roman als mythisches Symbol zu deuten. Tatsächlich aber wird dieser Sinnbezug von der einfachen Wahrheit wieder zurückgenommen, dass Sabeth an den Auswirkungen ihres Schädelbasisbruchs gestorben ist, nicht am Schlangenbiss. -------------------- 4) Manfred Jürgensen "Max Frisch: Die Romane" Wie Griechenland als Heimat des Mythos gesehen wird, gehört die Technik zu Nordamerika. Faber hat in den USA seine angemessene Wahlheimat gefunden und schätzt den "American Way of Life". Jedoch danach, einhergehend mit seinem körperlichen und moralischen Versagen, sagt er schliesslich der amerikanischen Lebensweise ab. Dreimal im Laufe der Geschichte bricht Faber von New York aus zu einer Reise auf. Jedesmal wartet am Ende dieser Reisen der Tod: 1. Nach der Reise nach Guatemala findet er Joachim am Strick 2. Auf der Reise nach Griechenland, die mit Sabeths Tod endet 3. Nach der Reise wieder nach Europa bzw. Griechenland endet schliesslich - dem Leser bleibt diese Vermutung selbst überlassen - sein eigenes Leben Fremdwörter im Buch Amöben griech. "Veränderliche"; zur Klasse der Wurzelfüssler zählende einzellige mikroskopische Lebewesen Atavismus Rückschlag einzelner Individuen in die Ausprägungsformen bestimmter Merkmale der entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren, z.B. Fell beim Menschen Chimäre/ -a (auch Schimäre) feuerschnaubendes Fabelwesen der griech. Myth.: vorne Löwe, Mitte Ziege, hinten Drache; Hirngespinst Entropie Informationstheorie: mittlerer Informationsgehalt, wenn die möglichen Ereignisse mit verschiedener Wahrscheinlichkeit eintreten Erinnye (röm. Furien) sind Rachegöttinnen aus der Unterwelt; in Athen wurden sie als Eumeniden verehrt, d. h. sie wandelten sich gegenüber dem übrigen griechischen Raum zu Segensgottheiten Ivy Efeu, hier: weiblicher Vorname Kybernetik angewandte Kybernetik befasst sich mit der Konstruktion von Rechnern und Steuersystemen, sowie mit kybernetischen Systemanwendungen in verschiedenen Gebieten manisch-depressiv geisteskrank, wobei Erregung und Niedergeschlagenheit neben - oder nacheinander vorkommen Maxwell'scher Dämon ein Gedankenexperiment in der statischen Mechanik (Versuch zur Zukunftsprophezeiung); Thema der Dissertation Walter Fabers Opportunist jemand, der sich prinzipienlos an die jeweilige Lage anpasst Spermatozoen griechisch "Samentierchen"; männliche Keimzellen Thermik durch Bodenerwärmung angeregter Aufwind Zopilote Schwarzgeier, Aaskrähe Zapoteken altes Kulturvolk, das zu den Urbewohnern Mittelamerikas zählt Figuren Walter Faber Das Beiwort "Faber" bedeutet geschickt, kunstfertig; als Hauptwort heisst es Arbeiter, Handwerker. Von heute aus gesehen ist "Homo Faber" der Mensch der exakten Wissenschaft und Technik. Er hält so viel vom Wissenkönnen, vom Zusammenfügen und Errichten, dass dagegen das Wachsen und die Gestalt für ihn eher verdächtig als vertrauenswürdig werden.5) Walter Faber, oder "Homo Faber", wie ihn Hanna Landsberg nennt, lässt sich auf die Charaktermaske (typisch Antike) eines trockenen Zahlenmenschen reduzieren, eines Technikers mit hölzerner Sprache - wäre da nicht das unglaubliche Spiel der Zufälle, dem er sich ausgeliefert sieht und die höchst ungewöhnliche Erzähltechnik, mit der dieser Charakter ins Bild gesetzt wird. Beides ist nötig, um Faber als einen leidenden und empfindsamen Menschen vorzuführen. Um diese Wirkung zu erzielen lässt Frisch seine Hauptfigur über sich selbst berichten, aus Situationen heraus, in denen er schon nicht mehr er selbst ist. "Am 4. Juni 1957 starb seine Tochter. Am 21. Juni beginnt er die Niederschrift der Ereignisse, einen Monat vor seiner lebensbeendenden Operation in Athen. Ein Schuldiggewordener berichtet und versucht damit, sich zu rechtfertigen, sich selbst zu verteidigen und lernt so, das Tragische in der Zeit zu erkennen."6) -------------------- 5) Werner Weber "Max Frisch 1958" - Bestand und Versuch 6) Hans Geulen "Max Frischs Homo Faber" - Studien und Interpretationen Schon in den ersten Worten des Romanberichts klingen wichtige wesensenthüllende Motive an: "Wir starteten...", "Ich war todmüde", "Ich war froh, allein zu sein". Beweglichkeit, körperlicher Verfall und Selbstisolation begleiten die Zentralfigur durch die Handlung und werden erst im Augenblick ihrer äussersten Zuspitzung aufgehoben: um 8.05 Uhr am Morgen des Athener Operationstages. Der fünfzigjährige Ingenieur ist Junggeselle aus Überzeugung, glaubt an Technik, Maschinen und Statistik. Sentimentalität ist ihm verhasst: "Ich hasse alles, wovon sie reden. Ich bin ja nicht blind. Den Mond über der Wüste von Tamaulipas sehe ich klarer als je, aber eine errechenbare Masse, die unseren Planeten umkreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ist das ein Erlebnis?" Ein Grundzug seines Wesens ist die Scheu vor engeren Bekanntschaften und Gefühlsbindungen mit anderen. Doch auch Faber hat seine heilige Kuh: die statistische Regel, welche ihm zur Denkbasis und Lebensphilosophie wird. Überraschendes bannt er in die Kategorie der Ausnahme. Wo andere ein Gebet sprechen, besinnt er sich auf die Statistik und gelangt schliesslich auf den Weg intellektueller Unredlichkeit. Wie er keine Freunde hat, sondern lediglich Bekannte, hat er auch keine Geliebte, sondern nur eine Partnerin in New York. Irgendwann verändert sich allmählich seine Bewusstseinslage. Gedanken ans Alter und ans Sterben greifen Fuss. Als sich die Fakten häufen, welche seine Vaterschaft bedeuten, verschanzt er sich, die Wahrheit unterdrückend, hinter den Zahlen: "Ich rechnete pausenlos, bis die Rechnung aufging, dass sie nur das Kind von Joachim sein konnte!" In dieser Haltung liegt die Wurzel der Zerstörung dreier Existenzen. Als Sabeth stirbt, ist er gezwungen zu sehen, dass er nicht nur ihr Leben zerstörte, sondern auch seines und Hannas.7) Frisch lässt seinem Helden keinerlei Zukunft mehr: der Heiratsantrag eines Todgeweihten geht an die eigene Tochter. Das private Wesen Walter Faber scheitert daran, dass er mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung auf den Menschen übertragen will. Dass er selber die Ausnahme bildet, führt ihn letztlich ins Verderben. Seine Wandlung, sein Erkennen kommen zu spät. Vor seinem Tod erkennt Faber den Sinn des Lebens ohne noch einen Nutzen daraus ziehen zu können.8) -------------------- 7) Ulrich Kramer 8) Sybille Heidenreich "Max Frisch" - Homo Faber Sabeth Sie ist nicht nur wörtlich genommen ein Kind, das dem Verhältnis Fabers mit Hanna entsprang, sondern auch gleichzeitig die Zusammensetzung der beiden sich widersprüchlich gegenüberstehenden Zeitgenossen. Ihr Tod entspringt einer inneren Notwendigkeit, ist schicksalhaft, aber nicht widersinnig. In Avignon, Stadt der Liebenden, bewundert sie gemeinsam mit Faber das Naturschauspiel einer Mondfinsternis. "Statt Mondschein und Liebe: Mondfinsternis!"9) Im Tode Sabeths findet Frischs bittere Distanzierheit den angemessenen Ausdruck. Gerade weil er in der Gestalt dieses Mädchens einen schuldlosen Menschen gebildet hat, ist die Opferrolle gewissermassen vorbestimmt. Sie ist sichtlich ein Kind ihrer Zeit, vom Modeschmuck bis zur Cowboyhose, den geschmacklos grünen Kamm in der hinteren Hosentasche. Ihre beruflichen Wünsche sind altersgerecht verworren: Kinderärztin, Kunstgewerblerin, Stewardess. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht das zwischen geilem Verführer und willenlosem Opfer, so Faber: "Ich war nicht verliebt, im Gegenteil, sie war mir fremder als je ein Mädchen, sobald wir ins Gespräch kamen." Jedoch schwingt von Beginn an ein merkwürdiges Interesse aneinander mit. Ihre scharfe Auffassungsgabe imponiert ihm, denn kaum jemand vor ihr hat den "Maxwell'schen Dämon" so schnell durchschaut. Ihre Jugend, ihr wacher Geist, ihre Sprache, selbst manche Gesten und Bewegungen erinnern ihn an die Zeit mit Hanna. Ihr Verhältnis zu ihm gründet sich auf Vertrauen, keineswegs auf Respekt; sie hört zu, wenn er von seinen Erfahrungen erzählt, jedoch wie man einem alten Mann zuhört - ohne zu unterbrechen oder zu glauben. Als sie in Avignon zum erstenmal miteinander schlafen, ist auch dies nicht das Ergebnis einer Verführung, sondern eher die Folge jener eigenartigen Stimmung, welche von einer Mondfinsternis ausgeht. Sabeth hat an diesem Abend das Empfinden, Faber nehme sie beide zum ersten Male ernst. "Alles an dem Mädchen stimmt, sie ist beneidenswert: selbstbewusst, ohne überheblich zu sein; emanzipiert, ohne Frauenrechtlerin zu sein und die Fraulichkeit verloren zu haben; mathematisch und künstlerisch begabt; sensibel, ohne gefühlsbetont zu sein; natürlich, ohne zurück zur Natur zu wollen; witzig ohne beissenden Spott; romantisch ohne Schwärmerei; "Kunstfee" und "Homo Faber" in einem."10) -------------------- 9) Ursula Roisch "Max Frischs Auffassung vom Einfluss der Technik auf den Menschen" 10) Sybille Heidenreich "Max Frischs Homo Faber" Hanna Wie Faber das männliche Lebensprinzip entstellt, indem er es zur Ideologie des Ingenieurs verengt, entstellt Hanna das weibliche Prinzip, indem sie es zur blossen Gegenideologie macht. Ihr Protest gegen Technik erschöpft sich in Negation; sie versagt gegenüber ihrem Kinde ebenso wie Faber - er will nicht Vater werden, sie will ein Kind ohne Vater haben. Hanna ist auch nicht zu einer wahren Gemeinschaft und Hingabe fähig.11) In den Friedensjahren scheitert ihre Ehe mit Joachim, als sie ihm ein gemeinsames Kind verweigert. Trotz wechselnder Bindungen an Männer hat sie all die Zeit im Grunde nur für ihr Kind gelebt. Sie hat Sabeth unterrichtet, wo deutsche Schulen fehlten, sie in Paris unter Lebensgefahr mit Medikamenten versorgt und ihr zuliebe mit vierzig Jahren noch Geige gelernt. Eine Niederlage im Geschwisterkampf schürte Hannas Empörung über den lieben Gott, weil er die Buben kräftiger gemacht hat. Das Treffen mit einem Blinden im Englischen Garten wies ihr den Weg zu den Schönheiten der griechischen Antike. Diese Erlebnisse sorgten wohl dafür, dass sich Egozentrik und Fürsorglichkeit in ihrem Wesen verbinden, auf einer Grundlage, die aus Hannas Streben besteht, den Männern Ebenbürtiges zu leisten. Sie wird sachlich wie ein Mann, tüchtig im Beruf, genau in Nebensachen - Faber sieht in ihr bei der Wiederbegegnung nicht mehr die einstige "Kunstfee". Das Erkennen von Sabeths Inzucht-Erlebnis verkraftet sie nach aussen in nahezu eisiger Starre. Nur nachts hört Faber im Nebenzimmer ihr Schluchzen. "Sie glich ihrer Tochter schon sehr" erkennt Faber an Hanna. Die Umkehrung dieses Satzes fügt sich zum Hintergrund des Inzucht-Ereignisses. Er hat objektiv versucht, durch Addition von Erlebnissen die Zeit aufzuheben, indem er das eigene Kind zu heiraten sucht. Hanna: "Ich habe mich so verhalten als gebe es kein Alter, daher widernatürlich." Wie Faber hinter dem Hirngespinst herjagt, nämlich der Berechenbarkeit des Lebens, wird Hannas Weg vom Wunsch "ein vaterloses Kind zu haben" geprägt.12) Bemerkung: Die Figur Hanna gehört, trotz erkennbarer Demonstrationsfunktion, zu den menschlich-natürlich anrührendsten Frauengestalten in Frischs Werken.13) -------------------- 11) Gerhard Kaiser "Max Frischs Homo Faber" - Erläuterungen und Dokumente 12) Hans Geulen "Max Frischs Homo Faber" - Studien und Interpretationen 13) Reinhard Kästler "Königs Erläuterungen" Analyse II Technik, eine Männersache? Im Buch äussern sich vier Personen über Technik: Faber, Marcel, der Baptist und Hanna, wobei der Protagonist der einzige Sachverständige ist. Marcel, der Musiker und Mayakonservator, versteht Technik als Feindbild, da sie weite Teile des Lebens verneint (vorallem Kunst, was ihm naturgetreu viel bedeutet). Der Baptist benutzt die starke Ausprägung des technischen Bewusstseins Fabers als Ansatzpunkt im Kampf um die Gunst Sabeths. "Mister Faber is an engineer" sagt er in einem Gespräch, welches sich um den Louvre dreht. Worauf dieser erwidert, der Technikerberuf sei der einzig männliche überhaupt - "Technik statt Mystik". womit seine Meinung über Kunst deutlich zum Ausdruck kommt. Substitution der Skulptur durch Roboter - nicht den menschlichen Leib abbilden - ihn ersetzen: "Was wir ablehnen; Natur als Götze!" Gott ist tot, und jemand muss seine Geschäfte ja übernehmen - der Ingenieur. Erst geprägt durch seine Erlebnisse mit Sabeth und den Gesprächen mit Hanna erkennt er seine "déformation professionelle". Die Frau, das "unbekannte" Wesen Für Ing. HTL Walter Faber sind die Frauen ein Rätsel; angefangen bei Hanna, über Ivy, zu Sabeth, bis hin zu seiner Mutter. Für alle liesse sich eine Stelle herbeiziehen, wo er seiner Unwissenheit Ausdruck verleiht. Hanna dazu: "Der Mann will die Frau als Geheimnis, um von seinem eigenen Unverständnis begeistert und erregt zu sein." Der Mann sieht sich als Herr der Welt - die Frau tritt als Proletarier der Schöpfung auf. Faber ist nie über die Trennung von Hanna hinweggekommen, zwar hat es in seinem Leben genug Frauen gegeben, um ihn von falschen Minderwertigkeitsgefühlen zu befreien. Doch es war nie wie mit ihr: "Nur mit Hanna ist es nie absurd gewesen." Wo ist der Platz für Sex und Liebe in einer von Maschinen dominierten Welt? "Ivy heisst Efeu, und so heissen für mich alle Frauen. Ich will allein sein!" Das weibliche Pendant als Schmarotzer, welcher einem die Luft raubt! Kein Wunder hat er Mühe länger als drei Tage mit einer Frau in einem Raum zu verbringen und wird ihnen gegenüber leicht grob. Sein Prinzip nie heiraten zu wollen, verfliegt allerdings rasch, als er Sabeth kennenlernt. Zwar versteht er sie noch weniger als alle Mädchen zuvor, doch ihre offensichtliche Ähnlichkeit mit Hanna und ihre jugendliche Frische faszinieren ihn. Es ist klar - er will eine zweite Chance haben. Ein einziges Mal versteht er Hanna, und zwar als sie ihm beim Tod ihrer Tochter mit beiden Fäusten ins Gesicht schlägt... Das Schicksal - die zwingende Statistik Es ist, als ahne Faber am Anfang des Buches, wo er den Flug verpassen wollte, was ihm bevorsteht, als wollte er den Beginn verhindern. Doch die pflichtbewusste Stewardess findet ihn und bringt ihn zum Flugzeug. "Faites vos jeux!" Faber versteht den Zufall als statistische Abweichung; er ist ein zuversichtlicher Mensch, der ins Trudeln gerät, als er bemerkt, dass nicht nur die Routine ihre Zwänge besitzt, sondern auch das Treibenlassen. Er wird alt, doch er kann es sich nicht eingestehen. Die Statistik ist ein Modell, d. h. eine Vereinfachung. Es kann dem Leben nicht gerecht werden! Schon sein Beispiel mit dem Würfel hinkt. Im Leben ist nicht jede Entscheidung einer Nummer zwischen 1 und 6 zugeordnet - also nicht jede Möglichkeit berechenbar. Sein Wunsch, es solle doch noch einmal damals sein, ist zwecklos und würde schlussendlich auch nichts ändern - da er ja die Einsicht doch noch nicht hätte. "Rien ne va plus!" Der Mensch - eine Fehlkonstruktion Faber befindet sich im Spannungsfeld Mensch-Maschine, eine Problematik, welche wir in unserer technologisierten Welt nur zu gut verstehen. Der Mensch als Handlanger einer Maschine (z.B. NC-Zenter), der Mensch als grösste Fehlerquelle... Fabers Ideal des Körpers könnte man im Verbrennungsmotor finden. Immer wieder lässt sich dieser auseinandernehmen, säubern (entschlacken im Dschungel), reparieren und wieder zusammensetzen. Dementsprechend sein Urteil zu unserem Leib: "Als Konstruktion möglich, aber das Material ist verfehlt. Fleisch ist kein Material, sondern ein Fluch." Er ist es nicht gewohnt krank zu sein, doch der Zerfall ist nicht aufzuhalten. Erste Anzeichen dafür und der Beweis, dass auch der Motor seine Schwächen hat: "Gefühle sind Ermüdungserscheinungen, wie beim Stahl." Er kann seine Bedürfnisse (Gefühle) nicht mit seinem Bild vom Mann in Übereinstimmung bringen, übrigens ein Problem, welches wir in verstärktem Ausmass kennen. Was sollen wir beispielsweise vom Gefühl par excellence, der Liebe halten, wo sie heute durch biochemische Prozesse begründbar ist? Auch die Maschine ist nicht auf ewig dem Menschen intellektuell unterlegen. Wann wird der erste Computer dem Geist des Menschen nicht nur in berechenbaren Bereichen überlegen sein? Wann müssen wir den auf Silikon aufgebauten Gerätewesen Rechte zugestehen, wie den auf Kohlenstoff basierenden Lebewesen? Faber nennt den Dschungel eine "blühende Verwesung", diese Zweideutigkeit gibt dem Fleisch auch seine Berechtigung... ganz abgesehen von der einfachen Entsorgung. "Inzest" o. "Sex mit dem Maxwell'schen Dämon" Professor O sagt einmal, er finde es schade, dass Faber seine Dissertation (über das sogenannte Maxwell'sche Dämon) nicht gemacht habe - und hat damit in einem gewissen Sinne nur zu recht. Faber weiss, dass die Maschine (Computer) genauer erkennt als der Mensch und die Zukunft (hier: Vergangenheit) eher errechnen kann, da sie nichts vergisst (hier: Zeitpunkt der Empfängnis Hannas) und keine Hoffnungen auf das Resultat hat (hier: Sabeth nicht Tochter). So rechnet der Mathematiker Walter Faber, bis das Ergebnis nach Adam Riese stimmt. Der "Hochzeitsreise", wie er ihre Tour nennt, steht also nichts mehr im Wege... Telegramm des Todes Ivy liest Walter aus der Hand und weist ihn auf die kurze Lebenslinie hin. Faber kann das natürlich nicht ernstnehmen - da schon fünfzig, da schon alt - wie er wohl berichten würde. Auch die sich häufenden Magenbeschwerden und sein ständiges Beteuern, er sei nie krank gewesen, ausser... Masern und Blinddarm, künden den kommenden Tod an. Blinddarm, an dem man vor nicht allzulanger Zeit ( wie er selbst auch ausführt) noch gestorben wäre. Der Keim des Unglücks läge so, mit ihm zusammen im Sarg. Doch nirgends manifestiert sich der Tod so stark wie im Erscheinungsbild des Professors O, einem modernen Sensemann. Sein Kopf, ein wahrer Totenschädel, scheint unentwegt zu grinsen und sein Ballonbauch kündet von seinem unersättlichen Hunger... Faber: "Wenn man nicht mehr da ist, wird niemand es bemerken." Als er mit Magenbeschwerden ausfällt, wird es noch deutlicher: "Die Montage (Turbinen) ging in Ordnung - auch ohne mich." Ein Mann, der sich überseine Arbeit definiert... überflüssig! Die Zopilote kommen - filme um dein Leben! Joachim Hencke, die erste: "Es ist leider eine sehr dunkle Aufnahme geworden, man sieht nicht sogleich, was es darstellen soll, weil diese mit der gleichen Blende in der Baracke aufgenommen wurde, wie vorher die Zopilote auf dem Esel draussen in der Morgensonne, ich sage: Das ist Dr. Joachim Hencke." Die Kamera als Versuch das Leben festzuhalten - oder wenigstens den Moment - muss versagen. Joachim Hencke, die zweite: "Ein Film, wie man schon manchen gesehen hat, Wochenschau, es fehlt der Gestank, die Wirklichkeit, wir sprechen über Belichtung, der junge Techniker und ich." Als beim Suchen nach der richtigen Stelle (Plantage) auch noch Sabeth über die Leinwand flimmert, ist es um die Selbstbeherrschung von Faber geschehen. Fluchtartig verlässt er den jungen Mann, lässt sämtliche Bänder zurück (alle unangeschrieben...) und setzt sich in den Zug nach Zürich - er fährt also dorthin, wo vor 21 Jahren alles begann. Während der Fahrt denkt er daran, sich die Augen auszustechen. Bilder werden zur Qual. Doch er weiss, dass es keinen Zweck hat. Erinnerungen lassen sich nicht einfach auslöschen oder wie Filmrollen zurücklassen... Der Amerikaner - ein Mensch? Der amerikanische Stereotyp, das klassische Beispiel eines Clichées? Stereotypstimmen aus Cleveland, welche meinen Europa einmal gesehen haben zu müssen. "OH, ISN'T IT LOVELY? OH, IS THIS THE CAMPAGNA? OH, HOW LOVELY HERE! OH, a.s.o." Frisch ist es damit allerdings ernst. Schon Herbert meint am Anfang des Buches, die Amerikaner seien kulturlos. Faber ist zunächst ganz und gar nicht dieser Meinung, nimmt er sich doch Dick zum Vorbild: "Einer von denen, die uns das Leben retten können, ohne dass man deswegen je intimer wird." Marcel (lebt selbst in den Staaten) dazu: "THE AMERICAN WAY OF LIFE; ein Versuch das Leben zu kosmetisieren, aber es lässt sich nicht kosmetisieren." Faber lehnt das Geschwätz natürlich als Künstlerquatsch ab, doch auf seiner Schiffsfahrt mustert er alternde Frauen hinter seiner Sonnenbrille - überhaupt tragen alle Sonnenbrillen... Faber dazu: "Da und dort, fand ich, gab es blühende Lippen, während der Hals an die gefältelte Haut von Eidechsen erinnert." Nach dem Tod Sabeths fühlt sich Faber um sein Leben betrogen. Wütend auf sich selbst und die amerikanische Lebensweise: "Schon was sie essen und trinken, diese Bleichlinge, die nicht wissen, was Wein ist, diese Vitamin-Fresser, die kalten Tee trinken und nicht wissen, was Brot ist, dieses Coca-Cola-Volk, das ich nicht mehr ausstehen kann." Er gewinnt die Einsicht, dass auch er nicht vor dem Tod gefeit ist, auch wenn er noch so grosse technische Wunderwerke bauen lässt - der Tod Homo Fabers ist also auf eine Art schon vor seiner Operation Tatsache: "Marcel hat Recht; ihre falsche Gesundheit, ihre falsche Jugendlichkeit, ihre Weiber, die nicht zugeben können, dass sie älter werden, ihre Kosmetik noch an der Leiche, überhaupt ihr pornografisches Verhältnis zum Tod, ihr Präsident, der auf jeder Titelseite wie ein rosiges Baby lachen muss, sonst wählen sie ihn nicht wieder, ihre obszöne Jugendlichkeit." Dick kommt nur einmal im Buch "persönlich" vor. Dort spührt Faber bereits seine Heimatlosigkeit, er fühlt sich unter den betrunkenen "Amis" nicht geborgen - unbeachtet und belächelt. Dick ist kein wirklicher - er ist ein sogenannter Sonnenscheinfreund. Unbefriedigt mit seinem "Vakuum zwischen den Lenden" neigt er zum Selbstmitleid, zum Vergessen mit Alkohol... Zu diesen Erkenntnissen gelangt Faber auf Cuba, wo er erlebt, was "Leben" bedeuten könnte... Nochmals leben... Nach dem Unfall Sabeths stösst sich Faber an Hannas Sprachverständnis: "Ihre Lust an Worten, als käme es auf Worte an." Doch auf Cuba spricht er mit einer Neger-Spanierin-Schönheit: "Die Komik; ich sage nicht, was ich will, sondern was die Sprache will. Ich bin Opfer meines kleinen Wortschatzes." Er nimmt sich selbst anders wahr. So bemerkt er, dass seine Augen nicht braun, wie im Pass vermerkt, sondern graugrünlich sind. Das Spiel (Beschreibungen erfinden, auf 21 Punkte gespielt), welches er mit Sabeth getrieben hat, beherrscht er besser, als er es sich selbst zugibt. Er spielt bloss eine Rolle, der weniger Fantasie zugestanden wird - all die vielen Dinge, die er früher nicht bemerkt hat, da er weiss, dass er nicht mehr lange zu leben hat: "Morgen werden sie mich aufmachen, um festzustellen, was sie schon wissen: dass nichts mehr zu retten ist." Er hängt wie noch nie an seinem Leben - an diesen Resten: "Hanna ist mein Freund, und ich bin nicht allein." Eine dauerhafte Beziehung zu Hanna wäre nun möglich, einer Beziehung, welche vor 21 Jahren an einem Wort scheiterte - nämlich an "deinem Kind". Hanna hat es wörtlich genommen. Daher der Wunsch Walter Fabers, des hoffnungsvollen "Neugeborenen": "Wenn man nochmals leben könnte!" Stimmen der Kritik Einem Land zu schaffen machen (Adolf Muschg) Hier ist ein Autor, der dem Land seiner Herkunft zu schaffen macht; nicht aus bösem Willen, sondern aus dem Bedürfnis nach Abstand, das offenbar mit zweierlei zu tun hat: Kunst und Gerechtigkeit. Ein erzähltechnisch raffiniertes Spiel (Adolf Muschg) Der komplizierten Struktur des "Stiller" nach hat er einen sehr einfachen Anfang. Walter Faber hat mit dem Stiller mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Frisch setzt hier ein raffiniertes Spiel in Gang: er beschreibt die Natur anschaulich und bildkräftig, um gegen diese Darstellung zu rebellieren. Sein Medium ist Faber. Effekt- und Reizverstärkung (F. Hoffmann) Zusammenfassend kann man "Homo Faber" als einen Kitsch-Roman bezeichnen: karge Fabel, überladene Oberfläche, Missverständnis zwischen Form und Inhalt, Märchencharakter, krankhafte dauernde Wiederholung des Helden, Effekt- und Reizverstärkung. Die kitschige Umgebung der Exotik-Technik-Verbindung kommt in diesem Roman stärker zum Vorschein als in anderen Werken. Gleichgewicht von Intuition und Verstand (M. Butler) In Sabeth hält die Intuition den Verstand im Gleichgewicht, während ihre Eltern sich zu entgegengesetzten Verhaltenspolen versteinert haben. Sie führt ihr relativ unbekümmertes Leben in der Spannung zwischen diesen Polen. Diese Andeutung des zentrischen Prinzips bleibt rein hypothetisch. Umschlag in Mythos (P. Pütz) Zivilisation und Natur, New York und Mexiko, Zukunft und Vergangenheit, neue und alte Welt, Amerika und Griechenland stehen nicht mehr in Opposition zueinander, sondern durchdringen und überlagern sich. Sie bieten keine gegenseitigen Alternativen und damit keine Auswege, weder durch den Fortschritt noch durch Mythos; der Fortschritt selbst schlägt in Mythos um und decouvriert damit sein Versagen. Sätze von extremer Sprachverrottung (W. Schenker) Weil die Fabersprache eine Rollensprache ist, findet man in diesem Roman leicht Sätze, die nicht nur von einer extremen Sprachverrottung zeugen, sondern auch bis an die Grenze der Verständlichkeit gehen können. Prozess der Erkenntnis (H. Steinmetz) Faber gelangt zu seiner Ich-Gewissheit und zur Erkenntnis der falschen Rolle, die er sich zugelegt hat, erst gegen Ende des Romans. Der Prozess der Erkenntnis vollzieht sich bei Faber durch das Schreiben. Er muss das gleichsam wider Willen erfahren. Schliesslich befreit er sich dadurch von seiner falschen Rolle und Realität, obwohl er sich mit seinem Bericht ursprünglich gerade rechtfertigen wollte. In seiner Sprache zu Hause (P. Weiss) Max Frisch mitten in Europa. Mir scheint er in seiner Sprache immer zu Hause zu sein. Ich bin in keiner Sprache zu Hause. Deshalb habe ich ihn gern einmal treffen wollen, um mit ihm in der Sprache, in der auch ich zu schreiben versuche, zu sprechen. Er gehört zu den wenigen Schreibern in dieser Sprache, deren Handwerk ich schätze. Persönlicher Eindruck Binh Diese Geschichte veranschaulicht die Widersprüchlichkeit der Technik und des Mythos, welche auch alle Menschen in sich vereinen und mit der sie sich zurechtfinden müssen. Jeder wird sich im Laufe seines Lebens irgendwann einmal die Frage stellen, was sein Bestehen überhaupt bedeutet, welchen Sinn es in sich birgt und welche "Mission" oder Aufgabe er/sie in der Gesellschaft zu erfüllen hat. Um darauf möglicherweise eine Antwort zu finden, schliessen sich einige den Sekten an oder begehen sogar Selbstmord, in der Hoffnung, da die Lösung zu entdecken. Der Beruf, welcher wie eine andere Welt dazu scheint, lässt uns all das vergessen oder verhilft uns zumindest, sie für eine Weile zu verdrängen, indem er uns mit anderen Problemen konfrontiert. Aber viele kommen mit dieser Art von Stress nicht klar, geraten dadurch in ein Tief (Alkohol, Drogen), aus dem sie nicht mehr herauskommen können und landen schliesslich im "Abfall". Im Laufe unserer Existenz müssen wir uns stets mit Schwierigkeiten herumschlagen und Entscheidungen treffen, die unsere Zukunft beeinflussen, sei es in positiver oder negativer Hinsicht. Doch ohne Technik und Mythos gäbe es kein Leben, das wir kennen (Sabeth wurde von Faber und Hanna gezeugt) - denn unser Bestehen basiert unter anderem auf Fortschritt und Zufällen. Martin Die Tatsache, dass ich selbst auf dem Weg bin, eine Ausbildung zum Ingenieur durchzumachen, erschien mir Grund genug, mir einige weiterführende Gedanken auch zu meinem Leben zu machen, welche allerdings wie frühere Versuche mir über den Sinn meines Bestehens klar zu werden, scheiterten. Ich bin kein typischer Homo Faber. Mein Interesse an Technik und Wissenschaft einerseits trivialen Ansporns (Ingenieur-Lohn, Abwechslung, Herausforderung usw.), andererseits mein vielschichtiges Streben nach Erkenntnis der endgültigen Art, wobei mir der Vergleich Frischs, Fabers mit dem erleuchteten Blinden stets vor Augen steht, lässt mir wenig Hoffnung auf Krönung meines Strebens. Mit Sorgen betrachte ich die Auswüchse im Touristikwesen in unserer Zeit. Schon Professor O bezeichnete Reisen als Atavismus - was die Hauptbeschäftigung Fabers war... Der Flugzeugtyp "Super-Constellation" als Sinnbild der Technik als Bestimmung wird mich wohl nicht so schnell wieder loslassen. Übrigens waren die Zufälle in "Homo Faber" wirklich eine Super-Konstellation... (wie ein Super-Gau wohl auch?). Systematik war wohl schon immer besonders auffällig auf Zufälle... (systematische Fehler, empirische Versuche usw.) Biographie 15.Mai 1911 Als jüngstes von drei Kindern in Zürich geboren; Vater war Architekt 1924 - 1930 Schüler des Kantonalen Realgymnasiums in Zürich 1931 - 1933 Student der Germanistik an der Uni Zürich; Abbruch des Studiums aus Geldmangel; Tod des Vaters; Tätigkeit als Journalist; Reisen nach Russland, Türkei, Griechenland, Ungarn und in den Balkan 1934 Veröffentlichung des ersten, von der Balkanreise inspirierten Romans "Jürg Reinhardt. Eine sommerliche Schicksalsfahrt" 1936 - 1941 Architekturstudium an der ETH in Zürich; Aufgabe des Journalistenberufs; Architektendiplom 1943 Eröffnung eines Architekturbüros gemeinsam mit seiner Ehefrau Constanze von Meyenburg; Doppelberuf als Architekt und Schriftsteller 1945 erstes Theaterstück "Nun singen sie wieder" 1950 Tagebuch 1946 - 49 1953 Veröffentlichung des Hörspiels "Biedermann und die Brandstifter" 1954 Auflösung des Architektenbüros; Trennung von Constanze v. M.; Erscheinung seines Romans "Stiller" 1957 Veröffentlichung des Romans "Homo Faber" 1958 Charles-Veillon-Preis in Lausanne für "Homo Faber"; Georg-Büchner-Preis in Deutschland für Sprache und Dichtung; Literaturpreis in Zürich 1961 Erscheinung seines wohl bekanntesten Stücks "Andorra" 1964 Roman "Mein Name sei Gantenbein" 1965 Wohnsitz im Schweizer Tessin 1972 Tagebuch 1966 -71 1975 "Montauk" eine Erzählung 1976 Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1982 Novelle "Blaubart" 1986 internationale Ehrungen aus Anlass des 75. Geburtstags 1987 Teilnahme an einem "Internationalen Forum für den Frieden" in Moskau mit Friedrich Dürrenmatt 1989 Palaver "Schweiz ohne Armee?" in deutscher und französischer Sprache 4.April 1991 M. Frisch stirbt in Zürich